Vladimir Fainberg Schriftsteller


ÐÓÑÑÊÈÉ     ITALIANO     ENGLISH     DEUTSCH
Home /
Bücher /
Über dich (Auszüge)
   

Über dich (Auszüge)

Der Autor, ein Schriftsteller aus Rußland, reist von Moskau nach Taisé (Frankreich) zu einem ökumenischen Treffen als Mitglied einer Gruppe russisch-orthodoxer Christen. Unterwegs macht er einen Abstecher nach Paris — auf Einladung seiner russischen Bekannten Irina, die dort seit einigen Jahren lebt.

... Schweigend lenkt Irina das Auto durch die immer leerer werdenden Pariser Straßen. Ich bin ihr dankbar für ihr Schweigen. Doch plötzlich ertappe ich mich beim Abhören ihrer Gedanken, der Gedanken eines anderen Menschen: «Vierundvierzig ... Drei blöde Ehen ...

Dieser Schurke Enrico hat meine Tochter und mich verlassen — und Omas Ohrringe hat er geklaut! Und die Ikone... Wenn ich nun krank werde, was passiert dann mit Shenja?

Verdammt, Odilia hat wieder vergessen, mir die 900 Franc zu bringen. Vergessen hat sie’s, bitte schön! Vierundvierzig ... Und wie alt ist Majakowski) gewesen, als er sich erschossen hat?««Siebenunddreißig, Irotschka!» — antworte ich plötzlich laut. Gott, das war doch ungewollt! Vor Verwunderung springt sie fast auf, sieht mich mit Entsetzen an, und unser Auto fährt beinahe in die eiserne Umzäunung der Allee rein. «Sei ruhig, Mädchen!». Ich umarme sie. «Mögen Sie auch eine Ikone gehabt haben, Sie glauben nicht an Gott, Sie vertrauen nicht Seinen Wegen. Darum sind Sie so verzweifelt, so zerrissen. Sie haben immer freie Wahl, freien Willen. Und Er ist ein Gentleman. Niemandem zwingt Er etwas auf. Wider Willen kann man nicht lieb sein, wissen Sie!.. In Wirklichkeit steht es gar nicht so schlimm um Sie! Ich wäre glücklich, wenn ich ein so liebes Kind hätte.»

Fast am Ende der Allee, vor dem hell beleuchteten Platz, hält Irina an der Bürgersteigkante an.

«Shenja wird eigenwillig... und unberechenbar. Sie diktiert mir ihre eigenen Spielregeln... Sie haben es doch selber gesehen. Wozu haben Sie ihr das Parfüm gegeben?.. Vielleicht sollte ich sie einem Psychiater zeigen?».

«Irotschka, warum haben wir hier angehalten?» — «Dort um die Ecke ist Piace Pigal. Ich warte im Auto, wenn Sie gestatten. Es friert mich ein bißchen. Und Sie können sich umschauen. Da kriegen Sie einen Schock für den Rest Ihres Lebens.»

Ich sehe plötzlich etwas, wovon ich in der Tat einen Schock kriege. Nein, es ist kein Schock, es ist eher die Begeisterung eines Kindes, wenn es plötzlich verstummt von der Anschauung eines Wunders.

Über die nächtliche Allee stolziert ein Mann in langen Stiefeln. Er führt ein riesiges weißes Roß am Zügel. Ein rotes Gewand liegt auf dem Rücken des märchenhaften Tieres. Seine Hufe stelzen im Gleichtakt auf dem Pflasterstein. Die Vision schwimmt langsam an unserem Auto vorbei zum Bürgersteig. Der Mann öffnet das Haustor und beide verschwinden dahinter.

«Ein Traum, ein Märchen, wie bei Mark Schagal», — sagt Irina. «Schade, daß Shenja es nicht gesehen hat... Übrigens, wie konnten Sie meine Gedanken lesen?»

Aber ich habe das Auto schon verlassen. Von unklarer Neugier getrieben, öffne ich die schwere Tür eines Aufganges. Dahinter sehe ich den Durchgang zu einem dunklen Hof, wo irgendwelche Theaterdekorationen im Haufen liegen.

Ich drehe mich um. Hinter der Glasscheibe unseres Citroëns sehe ich im Dunklen Irmas Silhouette. Ich gehe zum Platz.

An der Ecke ist das Schaufenster eines Sex-Shops mit Unmengen von verschiedenartigen Kleidungsstücken. Mit teuflischer Einfallskraft erfunden und ausgeführt, sind sie dazu bestimmt, den weiblichen Körper nicht zu bedecken, sondern seine intimsten Teile zur Schau zu stellen.

Es stehen Peitschen herum für Sadisten und Masochisten. Ein Bikini aus Metallringen soll die Frau als scheinbar bekleidet, zugleich aber absolut nackt darstellen.

Eine kleine Gruppe von Arabern erscheint aus der Dunkelheit. Lebhaft gestikulierend besprechen sie die Vitrine, sehen sich jedes darin ausgestellte Teil aufmerksam an.

Ich gehe weg.

Derjenige, der in seiner Jugend kein echtes Liebesgefühl zu einem Mädchen, einer Frau empfunden hatte, der nur leibliche, physische Nähe kennt, kann nie ein echter Mensch werden. Ist es nicht ein wirklicher Grund für Rauschgiftsucht und unmotivierte Morde?

... Ich gehe um den Platz herum. Männer in abgetragenen Lederjacken versuchen mich in ihre Lokale zu locken, fassen mich sogar an. Ich befreie mich von ihren Umarmungen und schreie auf Russisñh:

«Geht weg, laßt mich doch los!»

Einer von ihnen, ein älterer Mann, glotzt mich erstaunt an: «Russe? Komm doch rein! Wirst zufrieden sein. Kannst ficken oder gefickt werden — frei nach Wahl!»

Er lacht laut.

Jeder dieser Leute hat eine Mutter, die vielleicht an seiner Wiege Lieder gesungen hat, viele von ihnen sind getauft worden — kann man sich das heute noch vorstellen?

Ich verlasse den Platz und gehe wieder zurück. Um die Ecke wartet auf mich Irina in ihrem Auto. Eine Frau in offenem silberfarbenem Mantel und engem Minirock geht mir langsam entgegen. Sie bleibt für einen Moment stehen, sieht mir in die Augen. Ich weiß nicht, was sie dort gelesen hat, aber ich sehe in ihren Augen und in ihrem geschminkten Gesicht mit geschwollenen Lippen ein deutliches Zeichen von Unglück und Leid.

Es fangt wieder an zu nieseln.

«Na und?», — Irina öffnet mir die Tür. Ich habe keine Lust zu antworten, zu reden...

Aus Paris fahrt der Autor ins Kloster, wo sich die Mitglieder der Reisegruppe aufhalten. Dort trifft er sich mit einem katholischen Mönch, dem Jesuiten Vater Bernhard, dessen Gesicht er schon früher mehrmals im Traum gesehen hat, ohne ihn zu kennen. Vater Bernhard ist todkrank, er hat Krebs mit Metastasen und muß demnächst operiert werden. Der Autor möchte mit ihm reden, um das Rätsel seiner seltsamen Träume zu lösen.

Er tritt ein und schließt hinter sich die Tür. Vater Bernhard ist jetzt nicht in sein Priestergewand gekleidet. Er hat einen einfachen Anzug an.

«Ich habe auf Sie gewartet. Habe mir sogar schon Sorgen gemacht um Sie. Ich setze mich, wenn Sie gestatten».

«Aber natürlich... Ich wußte, daß Sie auf mich warten. Entschuldigen Sie, ich habe verschlafen.»

Er läßt sich nicht helfen, dreht seinen Stuhl mit der Lehne zum Tisch um und setzt sich mit sichtbarer Mühe darauf.

«Nehmen Sie auch Platz! Ich will Ihre Augen sehen. Ich muß Ihnen beichten».

Verwirrt lasse ich mich auf meinen Stuhl nieder — gegenüber Vater Bernhard.

Er bekreuzigt sich. Seine Hand ist gelb wie altes Pergament, sein Gesicht ist auch gelb. Blaue Augen sehen mich an.

«Vater Bernhard, was bin ich für einer, daß Sie mir beichten wollen?! Ich bin doch ein einfacher Mensch. Sie sehen ja, daß ich selbst so viele Fragen an Sie habe».

«Regen Sie sich bitte nicht auf. Sie dürfen rauchen. Sie sind doch Raucher, oder?»

Er wartet, bis ich mit zitternden Fingern meine Zigarette angezündet habe.

«Regen Sie sich nicht auf. Mit Demut bitte ich Sie meine Beichte zu erhören. Es ist Ihnen jetzt etwas unheimlich zumute, aber erhören Sie doch einen alten Menschen», er fährt mit seiner Hand über seinen kurzen Seemann-Bart und lächelt bitter. «In diesem Jahr, im November, wäre ich achtzig. Aber ich habe Krebs. Einen schlechten Krebs. An der Magendrüse. Morgen, wenn Sie nach Moskau zurück fahren, gehe ich in die Klinik zur Operation. So hat das Ärztekonsilium beschlossen. Es ist für mich eine glückliche Chance, daß Sie jetzt hier sind.»

«Lieber Vater Bernhard, verzeihen Sie mir meine Dummheit! Ich habe verstanden. Sie haben meine Bücher gelesen und wollen, daß ich Ihnen helfe, wieder gesund zu werden. Ich bin bereit alles zu versuchen, was möglich ist. Was ich kann. Wenn ich es kann...»

«Nicht so hastig», lächelnd schüttelt er den Kopf. «Aus menschlicher Schwäche habe ich mal in der Tat daran gedacht. Ich dachte: und wenn ein Wunder passiert? Jetzt ist es schon spät.

Ich wundere mich, wieso der Herr mich nicht früher zu Sich berufen hat«.

«Wozu lassen Sie sich dann operieren, der Eingriff dürfte ja extrem schwer sein! Dire Leber ist zerstört, Sie haben Metastasen, nicht wahr?»

«So ist es, ja. Aber ich unterstehe meinem Beichtvater. Er sagte mir, wenn das Konsilium auf der Operation besteht, muß ich einwilligen.»

«Gut, das Konsilium mag Recht haben. Wie Sie selber sagen — ’und wenn ein Wunder passiert?’»

«Reden wir nicht mehr darüber. Nicht deshalb bin ich jetzt hier. Gleich gebe ich Ihnen einen Aschenbecher».

Er steht auf, geht zum Wandschrank, holt daraus eine Kaffeeuntertasse und reicht sie mir. Auf einmal verstehe ich, daß ich in seinem Zimmer wohne, daß Vater Bernhard mir seine Zelle zur Verfügung gestellt hat.

Er setzt sich wieder vor mich und sieht mich etwas befremdet und prüfend an.

«Heute morgen haben Sie auf meine Frage in der Kirche bestätigt, daß Sie Jude sind. Richtig?»

«Ja, ich bin ein hundertprozentiger Jude. Was ist nun dabei? Vater Bernhard, was wollen Sie damit sagen?»

«Ich will damit sagen, daß ich ein SS-Offizier gewesen bin. Mein früherer Name ist Otto von Stauffenberg. Bei Ihnen in Rußland und auch in Weißrußland habe ich Juden und gefangene Partisanen getötet».

«Selbst? Mit diesen Händen?»

«Ich habe es den Soldaten befohlen. Das ist mehr, als selbst. Meine Hände blieben immer sauber, ich trug ja Handschuhe, wissen Sie... Als wir in die Sowjetunion einmarschiert sind, war ich fünfundzwanzig. Wie alt waren Sie damals?»

«Das ist unwichtig. Ich war ein kleiner Junge. Wäre ich in Ihre Hände geraten, hätten Sie mich getötet. Und meine Mutter auch. Ich habe also Glück gehabt».

Er sitzt ruhig, die Augen mit faltigen Lidern zugedeckt. Abscheulich, wie eine ausgetrocknete Eidechse.

... Was soll ich tun? Hörst du mich? Das Blut kocht in meinen Adern. Sage mir, was ich tun soll! Ich kann ihn doch nicht aus seiner eigenen Zelle rausschmeißen. Er hat sich hier getarnt, er läßt sich von der Kirche beschützen und lebt ruhig in Frankreich. Und nun hat er beschlossen, von mir, einem Juden aus Rußland, eine Vergebung zu bekommen, bevor er krepiert. Um mit Komfort zu sterben.

«Sterben müßte man sinnvoll», sagt er plötzlich. Ich bin überrascht. Er hört meine Gedanken.

Er schaut mich wieder an. Direkt.

«1939 habe ich zusammen mit einer Gruppe Auserwählter eine geheime Ausbildungsanstalt in Berlin besucht, wo tibetische Lamas unterrichteten. Haben Sie etwas davon gehört?»

«Ja, dort wurde auch der Emigrant Sergei Vronskij ausgebildet. Später entführte er ein Flugzeug und setzte sich damit nach Rußland ab».

«Er ist Russe, ich bin Deutscher... Ich bin nicht weggeflogen. Drei Jahre war ich an der Ostfront. Darum kenne ich Russisch. Ich habe selbst verhört, ohne Dolmetscher». Er holt aus der Jackentasche ein Fläschchen mit Tabletten und schluckt eine davon.

«Brauchen Sie Wasser?»

«Nein, danke. Im Winter 1942, als der Dnepr schon zugefroren war, ging ich einmal mit einer Gruppe hochrangiger Generäle über den Fluß an Haufen vereister Leichen vorbei. Plötzlich geschah mit mir etwas, ich habe auf einmal verstanden, daß meine sauberen Hände voller Blut sind. Ja, diese Hände, mit denen ich selbst niemanden getötet habe. Aus Ihren Büchern weiß ich, daß Sie die Menschen heilen. Ich tat es auch. Erfolgreich. Mit diesen Händen. Ja, ja, alles ist nicht so einfach, wie uns scheint... Möchten Sie noch eine rauchen? Bitte».

Ich zünde mir noch eine Zigarette an und gehe qualmend vom Fenster zur Tür und zurück.

Und er fährt fort.

«Die Kapitulation erwischte mich in München. Ich wurde heimlich nach Südamerika ausgeführt, nach Argentinien. So wurde ich von einem internationalen Tribunal gerettet. Damals hätte man mich erhängt. In Argentinien lebte ich unter einem fremden Namen, arbeitete auf einem Schlachthof in Buenos Aires, besuchte Bordells. Ich war damals jung und stark. Zwei Jahre lebte ich so, und ich fühlte mich miserabel. Nach zwei Jahren ging ich als Matrose auf ein Handelsschiff, das aus Montevideo nach Makao fuhr. Dann habe ich noch zwei Jahre gebraucht, um von dort nach Tibet zu kommen, nach Lchasa. Ich wollte meine Lehrer finden. Meine Krise war furchtbar. Gestern habe ich im Speiseraum Ihre Augen gesehen, und sie haben mich an etwas erinnert...

In Lchasa haben mich die tibetischen Mönche für lange Zeit in eine Zelle unter die Erde geschickt — zur Reinigungsmeditation. Ich habe dort aber nur diese Augen gesehen... Ich habe dort keine Erlösung gefunden. Aus Tibet kehrte ich nach Europa zurück und ging zur Polizeiverwaltung Berlins. Ich wurde zu 20 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Und alle zwanzig Jahre habe ich zu Gott um Vergebung gebetet. Dort, im Gefängnis habe ich wunderbare Dinge erlebt, keine Halluzinationen, sondern etwas, wovon man nicht reden darf.

1975 wurde ich aus dem Gefängnis entlassen. Im Gefängnis habe ich all die Jahre gearbeitet, ich war Schneider. Von dem Geld, das ich dort verdient hatte, buchte ich eine Reise nach Israel, nach Jerusalem. Dort beichtete und betete ich um Vergebung in der Kirche des Grabes des Herrn. Nach der langen Zeit des Noviziats wurde ich Mönch des Jesuiten-Ordens; von dort wurde ich nach Frankreich geschickt. Das ist meine Geschichte. Eine schreckliche Geschichte, das ist wahr! Denn ich erinnere mich stets an diejenigen, die auf meinen Befehl erschossen wurden. Ich erinnere mich an die Augen des jüdischen Jungen, sie waren Ihren Augen sehr ähnlich... Seine Mutter schrie: «David!», als man sie als erste erschoß, und er noch am Rand der Grube stand. Er hieß David«.

Vater Bernhard sitzt unter dem Kruzifix tief gebeugt, erschreckend gelb.

«Gehen wir nicht lieber an die frische Luft? Ich habe hier doch zu viel geraucht».

«Danke. Ich gehe lieber zu mir, lege mich ein bißchen hin».

Ich halte seinen Ellbogen und begleite ihn aus dem Zimmer in den Korridor. Auf der Treppe hält er plötzlich seine Hand an der rechten Seite, atmet mit Mühe auf und versucht zugleich zu lächeln. Nie habe ich ein solches Lächeln gesehen.

«Vater Bernhard, verzeihen Sie mir meinen Haß! Gott hat Ihnen vergeben. Ich aber bin ein schlechter Christ». Ich umarme seinen Rücken und führe ihn die Treppe herunter. «Ihre Geschichte ist eine Geschichte mit einem schönen Ende. Sie haben Kräfte gefunden, sie mir zu erzählen. Ich muß dadurch belehrt werden! Ich habe nun alles verstanden. Darf ich irgendwann darüber schreiben?»

Er nickt. Und als wir die erste Tür des Hauses am Ende eines nassen Pfades erreicht haben, sieht er mich wieder an:

«Sterben muß man sinnvoll...»

   


© Vladimir Fainberg, 2003–2023.